Fehlzeiten in der Pandemie: Weniger Krankmeldungen, aber längere Krankheitsdauer wegen psychischer Erkrankungen
Rückgang der Fehlzeiten im Mai 2020 trotz Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung
Berlin. Nach einem stetigen Anstieg der Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen in den letzten Jahren ist 2020 erstmals wieder ein Rückgang der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitsfälle zu verzeichnen. Gleichzeitig stieg bei den AOK-versicherten Erwerbstätigen, die wegen psychischer Probleme im Betrieb fehlten, die durchschnittliche Dauer der Erkrankung. Das zeigt eine aktuelle Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) für die Monate Januar bis August 2020. Diese Entwicklungen stehen vermutlich im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie. Insgesamt haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Monaten Mai bis August 2020 deutlich seltener krankheitsbedingt in ihren Betrieben gefehlt als im Vorjahr. Zuvor hatte es im März und April 2020 vor allem wegen Erkältungskrankheiten sehr viel mehr Krankmeldungen gegeben als ein Jahr zuvor. „Es bleibt abzuwarten, wie sich die steigenden Covid-19-Infektionszahlen und der mögliche Anstieg von Atemwegserkrankungen im Herbst und Winter bei den Krankenständen bemerkbar machen werden“, sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des WIdO.
Die aktuellen Analysen des WIdO verzeichnen vom 1. Januar bis zum 31. August 2020 im Durchschnitt 11,1 Arbeitsunfähigkeitsfälle je 100 AOK-Mitglieder wegen psychischer Erkrankungen. Das waren deutlich weniger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres: 2019 waren von Januar bis August 12,0 AU-Fälle je 100 AOK-Mitglieder gemeldet worden. „Es ist zu vermuten, dass viele psychisch erkrankte Beschäftigte in der Lockdown-Phase zu Beginn der Pandemie aus Angst vor Ansteckung auf einen Arztbesuch verzichtet haben“, so Helmut Schröder.
Bemerkenswerterweise zeigt sich allerdings parallel zur Abnahme der Fallzahlen von psychisch bedingten Krankschreibungen eine sprunghafte Zunahme der Länge dieser Krankschreibungen. So stieg die Dauer eines durchschnittlichen psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitsfalls bei den AOK-Mitgliedern im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um mehr als drei Tage – von 25,9 Tagen bis August 2019 auf 29,3 Tage bis August 2020. „Offenbar haben Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen verstärkt auf die Einschränkungen und Belastungen reagiert, die mit der Pandemie einhergingen, und waren dadurch über einen längeren Zeitraum arbeitsunfähig“, so Schröder. Damit bekam der Trend der letzten Jahre zu immer längeren Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen im Pandemie-Jahr 2020 einen weiteren Schub.
Im Vergleich zum Vorjahr insgesamt weniger Fehlzeiten
Die Covid-19-Pandemie hat die bisherige AU-Statistik des Jahres 2020 stark beeinflusst – das lässt zumindest der Vergleich mit dem Vorjahr vermuten: Zunächst gab es zu Beginn der Pandemie im März und April 2020 einen deutlichen Anstieg im Vergleich zum Vorjahr. Der höchste Krankenstand wurde im März mit einem Krankenstand von 7,8 Prozent erreicht. Das waren knapp zwei Prozentpunkte mehr als im März 2019 (6,1 Prozent). Von Mai bis August lagen die Krankenstände hingegen unter denen der entsprechenden Vorjahresmonate. So meldeten sich AOK-versicherte Beschäftige im Mai 2020 nur an 4,4 Prozent der Tage krank – im Vorjahresmonat waren es 5,2 Prozent. Auch in den Sommermonaten setzte sich dieser Trend fort. „Der Effekt, den wir bei den psychischen Erkrankungen sehen, gilt auch für andere Erkrankungen, die beim niedergelassenen Arzt oder im Krankenhaus behandelt werden sollten: Viele Beschäftigte haben vermutlich aus Angst vor einer Infektion den Gang zum Arzt vermieden“, so Schröder. Der Rückgang könne auch damit zusammenhängen, dass das Infektionsrisiko durch die Maßnahmen zum Schutz vor Covid-19 gesunken sei, vermutet Helmut Schröder: „Mehr Homeoffice, weniger Mobilität und die Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln dürften zum Rückgang beigetragen haben. Angesichts aktuell steigender Infektionszahlen – und weil der Winter vor der Tür steht – sind diese Zahlen jedoch kein Anlass zur Entwarnung.“
Im Zehn-Jahres-Vergleich ist der Krankenstand 2020 „unspektakulär“
Das WIdO hat zudem einen Vergleich der ersten Monate des Jahres 2020 mit den entsprechenden Monaten der letzten zehn Jahre durchgeführt. Dieser Vergleich hat den Vorteil, dass Sondereffekte – zum Beispiel durch starke Grippewellen – in einzelnen Jahren ausgeglichen werden. Die Ergebnisse zeigen, dass lediglich im März und April 2020 ein höherer Krankenstand zu verzeichnen war als im Mittel der letzten zehn Jahre. Er lag im März 2020 knapp zwei Prozentpunkte und im April 2020 nur noch 0,4 Prozentpunkte über dem Monatsdurchschnitt der letzten zehn Jahre. Die Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung wegen Atemwegserkrankungen, die von Anfang März bis Ende Mai 2020 galt, dürfte einen Einfluss auf die erhöhten Krankenstände im Vergleich zu den Vorjahren gehabt haben. „Gleichzeitig sprechen die Daten dafür, dass Ärzteschaft und Beschäftigte mit dieser temporären Regelung verantwortungsvoll umgegangen sind“, betont Schröder. Im Mai und Juni 2020 sei der Krankenstand leicht hinter dem Durchschnitt der letzten zehn Jahre zurückgeblieben. „Somit fällt die Zwischenbilanz für das Jahr 2020 trotz der zwischenzeitlichen Ausschläge nach oben und unten insgesamt eher unspektakulär aus“, so Schröders Fazit.
Krankschreibungen wegen Covid-19 im April 2020 auf dem Höhepunkt
Eine Auswertung der Krankschreibungen wegen einer Covid-19-Erkankung zeigt: Insgesamt sind bis Ende August 2020 mehr als 58.000 Beschäftigte, die mindestens einen Tag AOK-versichert waren, wegen einer nachgewiesenen SARS-CoV-2-Infektion (ICD-GM: U07.1) krankgeschrieben worden, also 451 Covid-19-Erkrankte je 100.000 AOK-versicherte Beschäftigte. Die meisten AU-Meldungen wegen einer Covid-19-Erkrankung wurden in den Monaten März 2020 (160 Erkrankte je 100.000 Beschäftigte) und April 2020 (267 Erkrankte je 100.000 Beschäftigte) gemeldet. Eine im Juli 2020 veröffentlichte Auswertung des WIdO hatte gezeigt, dass Beschäftigte in Gesundheitsberufen in der Hochphase der Pandemie von März bis Mai am stärksten von Krankschreibungen im Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion betroffen waren. Auch für den Zeitraum von März bis August lässt sich ein erhöhtes Infektionsrisiko für diese Berufe, die mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakten kommen, herauslesen.